Kapitel 2
So funktioniert die Schuldenbremse
Die Obergrenze für neue Schulden ist flexibel
Die grundgesetzlich verankerte Schuldenbremse legt fest, dass der Bund pro Jahr nur eine begrenzte Menge neuer Schulden machen darf. Das bedeutet jedoch nicht, dass im Gesetzestext ein fester Höchstbetrag steht.
Tatsächlich „atmet“ die Schuldenbremse: die Obergrenze der jährlichen Neuverschuldung ändert sich von Jahr zu Jahr. Das geschieht in Abhängigkeit von der Lage der deutschen Wirtschaft: Ist die Konjunktur schwach – etwas vereinfacht: wenn es also viele Menschen gibt, die gerne mehr arbeiten würden – darf der Staat mit mehr neuen Schulden die Wirtschaft ankurbeln und so zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. Ist die Wirtschaft hingegen voll ausgelastet, weil alle, die können und wollen, arbeiten, muss der Staat sparen.
Warum die Schuldenbremse „atmet“
Ein bildliches Beispiel für das Prinzip, welches die Obergrenze für die Neuverschuldung bestimmt, ist der Wasserstand in einer Badewanne.
Für ein gutes Bad sollte in der Wanne genug Wasser sein, aber nicht so viel, dass sie überläuft. Ähnlich verhält es sich mit der Wirtschaft und der jährlich erlaubten Neuverschuldung. Wenn die Wirtschaft eines Landes nicht ausgelastet ist, kann eine höhere Neuverschuldung mehr Wirtschaftskraft erzeugen. Das erlaubt die Schuldenbremse in diesem Fall. Im Beispiel von oben gesagt: Es ist nicht genug Wasser in der Wanne, also lässt man mehr ein.
Vertiefung im Abschnitt: „Warum die Schuldenbremse ‚atmet‘“
Der Fachbegriff für die jährlich zulässige Neuverschuldung lautet „Nettokreditaufnahme“, kurz NKA. Sie ergibt sich aus der Gesamtsumme der im Haushaltsjahr aufgenommenen Kredite (der sogenannten „Bruttokreditaufnahme“), abzüglich der Tilgungen bestehender Kredite. Die zulässige NKA setzt sich zusammen aus einem festen und einem variablen Teil. Der feste Teil wird „Strukturkomponente“ genannt. Dadurch darf sich der Staat pro Jahr grundsätzlich in Höhe von 0,35 Prozent des BIP verschulden.
Der variable Teil ist die sogenannte „Konjunkturkomponente“. Dieser Teil erlaubt dem Staat, die Konjunktur zu steuern – oder, mit dem Beispiel von oben: „den Pegelstand der Badewanne zu regulieren“. Ist die Wirtschaft zu schwach ausgelastet, erhöht die Konjunkturkomponente den Verschuldungsspielraum. Ist die Wirtschaft sehr stark ausgelastet, verringert sie ihn oder macht sogar Überschüsse erforderlich.
Die Schuldenbremse gilt als eingehalten, wenn die von der Schuldenbremse erfasste NKA der Bundesregierung die Summe aus Struktur- und Konjunkturkomponente nicht übersteigt. Allerdings: Nicht alle Ausgaben und Einnahmen werden auf die NKA angerechnet (siehe nächste Vertiefung).
Weiterführende Informationen
Ein Beispiel für die Berechnung der zulässigen NKA findet sich auf S. 11 der Haushaltsrechnung 2021. Das vom Bundesfinanzministerium herausgegebene Kompendium zur Schuldenregel und unser Glossar zur Schuldenbremse enthalten weitere Informationen, Begriffsdefinitionen und Erläuterungen zur Schuldenbremse und ihren Bestandteilen.
Umgekehrt kann eine Volkswirtschaft aber auch überlastet sein: Wenn die Auftragsbücher voll sind und die Produktion nicht hinterherkommt, wenn Güter knapp werden und der Arbeitsmarkt leergefegt ist. Ist zu viel Wasser in der Badewanne, läuft sie über. Dann droht, dass Preise und Löhne zu schnell steigen und das Inflationsziel von 2% überschritten wird. Jetzt sollte Wasser aus der Badewanne gelassen werden. Der Staat tut dies, indem er weniger Geld ausgibt oder mehr Steuern erhebt. Die Schuldenbremse erfordert in einer solchen Situation daher eine niedrigere Neuverschuldung oder, wenn die Wanne wirklich sehr voll ist, dass gespart wird.
Die Obergrenze der Neuverschuldung atmet also. Damit soll der Staat dafür sorgen, dass die Wirtschaft ihr Potenzial ausschöpft, ohne dass sie zu schwach oder zu stark ausgelastet ist. Um im Bild zu bleiben: Über die Zugabe oder das Ablassen von Wasser soll die Badewanne stets den gewünschten Pegel haben. Das ist die in Kapitel 1 erwähnte Konjunktursteuerung.
Vertiefung im Abschnitt: „Warum die Schuldenbremse ‚atmet‘“
Bestimmte staatliche Ausgaben bzw. Einnahmen sind von der Berechnung der NKA ausgenommen.
Dabei handelt es sich um staatliche Einnahmen oder Ausgaben, durch die sich das Finanzvermögen des Staats nicht verändert. Beispiele dafür sind etwa der Verkauf von Unternehmensanteilen: der Staat hat nun mehr Geld, aber weniger Unternehmensanteile.
Oder auch die Aktienrente: wenn der Staat Aktien kauft, hat er zwar weniger Geld, besitzt aber Wertpapiere. Das soll verhindern, dass staatliche Defizite durch Privatisierungen ausgeglichen werden, bevorzugt aber Finanzinvestitionen über andere Investitionen. Staatliche Investitionen, zum Beispiel in Aktien, sind von der Schuldenbremse ausgenommen – nicht aber Investitionen in Schulen.
Weitere Informationen:
Der Begriff ist in Artikel 3 des Artikel-115-Gesetzes näher spezifiziert und soll „Ausgaben für den Erwerb von Beteiligungen, für Tilgungen an den öffentlichen Bereich und für die Darlehensvergabe“, sowie „Einnahmen […] aus der Veräußerung von Beteiligungen, aus der Kreditaufnahme beim öffentlichen Bereich sowie aus Darlehensrückflüssen“ erfassen. Die Definition des Begriffs findet sich hier.
Es gibt Situationen, die ein besonderes Handeln des Staates erfordern und große Auswirkungen auf die staatliche Finanzlage haben, zum Beispiel Naturkatastrophen oder die Corona-Pandemie. Zur Sicherung der staatlichen Handlungsfähigkeit können in solchen Fällen zusätzliche Kredite aufgenommen werden. Für diese muss jedoch gleichzeitig ein Tilgungsplan beschlossen werden.
Weitere Informationen:
Die Erklärung einer Notlage wurde in den letzten Jahren ein probates Mittel für Finanzpolitiker:innen bei der Suche nach zusätzlichen finanziellen Spielräumen. Zum Beispiel erklärte man die Coronakrise zur Notlage und nahm bei der Gelegenheit in großem Volumen Schulden auf, um damit in den Folgejahren auch Klimainvestitionen finanzieren zu können. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass das nicht grundgesetzkonform ist. Aktuell wird zudem debattiert, unter welchen Umständen der Klimawandel eine Notlage darstellt. Ggf. könnte man dann zur Bekämpfung des Klimawandels mehr Kredite aufnehmen, als die Schuldenbremse zuließe. Mehrere Landesregierungen beschaffen sich so derzeit zusätzliches Geld für die Dekarbonisierung.
Ausgaben aus bestimmten Sondervermögen, die schon vor Einführung der Schuldenbremse existierten, sind von der Schuldenbremse ausgenommen. Außerdem: Von 2021 bis 2023 wurden Ausgaben aus Sondervermögen grundsätzlich zeitlich versetzt angerechnet. Sie wurden nicht mehr im selben Jahr verbucht, in dem sie getätigt werden. Stattdessen wurden die Gelder auf die Nettokreditaufnahme angerechnet, wenn sie einem Sondervermögen zugewiesen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Praxis für nicht grundgesetzkonform erklärt.
Weitere Informationen:
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2023 könnte weitreichende Auswirkungen haben, auch auf die Länderfinanzen, da die Buchungspraxis des Bundes teils auch dort Anwendung fand.
Das Potenzial der Wirtschaft und die Berechnung der Konjunkturkomponente
Die maximal zulässige Neuverschuldung innerhalb der Schuldenbremse hängt davon ab, inwieweit das Potenzial der Wirtschaft ausgereizt ist, beziehungsweise wie hoch das Wasser in der Badewanne steht. Dort ist es auf einen Blick zu bestimmen. Die Definition des wirtschaftlichen Potenzials ist deutlich komplizierter.
Im Gegensatz zum Pegelstand des Badewassers lässt sich das Potenzial einer Wirtschaft nicht beobachten. Niemand weiß genau, wo die Kapazitätsgrenze der Wirtschaft insgesamt liegt – sprich, wie viel sie und wir alle potenziell leisten können. Das liegt auch daran, dass dieses Potenzial nicht in Stein gemeißelt ist. Stimmen die Rahmenbedingungen, etwa durch gute Politik, ist es größer. Schlechte Politik hingegen, oder durch die Klimakrise bedingte Naturkatastrophen, lassen es schrumpfen.
Das Potenzial der Wirtschaft ist eine immens wichtige Kenngröße, denn die maximal zulässige Neuverschuldung richtet sich danach, wie weit das aktuelle BIP davon abweicht. Das Problem: Man kann das Potenzial einer Wirtschaft nur schätzen, und selbst das lediglich annähernd.
Hat man das Potenzial geschätzt, wird berechnet, wie weit die Wirtschaft im nächsten Jahr voraussichtlich vom Potenzial entfernt ist und wie sehr sich der Staat dafür verschulden darf. Der ersetzt nämlich nicht die komplette fehlende Nachfrage. Stattdessen soll er lediglich die Wirtschaft stabilisieren, dafür sorgen, dass Unternehmen und Privatleute genug Geld haben, um wieder für Auslastung zu sorgen. Für das Jahr 2024 zum Beispiel schätzt die Bundesregierung die Unterauslastung der Wirtschaft auf 38 Milliarden Euro. Dafür darf sie sich mit 8 Milliarden verschulden. Das ist die sogenannte Konjunkturkomponente.
Vertiefung im Abschnitt: „Das Potenzial der Wirtschaft“
Das Produktionspotenzial wird auf Basis dreier Inputs berechnet: dem Kapitalstock, dem Arbeitspotenzial und der totalen Faktorproduktivität.
Der Kapitalstock umfasst alle Maschinen, Produktionsanlagen und -gebäude etc., die zur Produktion zur Verfügung stehen. Da der Kapitalstock nur physische Dinge summiert, ist es – zumindest theoretisch – leicht, ihn zu ermitteln.
Das Arbeitspotenzial – die in einem Jahr in Deutschland möglichen Arbeitsstunden – ist weniger einfach zu bestimmen. Es kann inhärent nicht beobachtet werden: Niemand weiß, wie viele Stunden die deutsche Bevölkerung theoretisch bereit wäre zu arbeiten. Manchmal weiß man das ja selbst nicht. Sich ändernde Umstände, etwa nach einer Familiengründung oder in einem neuen Job, verändern auch diese Kennzahl.
Heute definiert man das Arbeitspotenzial auf Basis von Annahmen, erstens über die Entwicklung der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, zweitens der Arbeitsmarktbeteiligung und drittens, der geringstmöglichen Arbeitslosenquote, ohne dass es zu Inflation kommt (die sogenannte NAWRU).
Auch die Produktivität lässt sich nicht beobachten. Man schätzt sie, indem man sich den historischen Zusammenhang zwischen Arbeit, Kapitalstock und dem BIP ansieht. Der Teil des Wachstums, der sich nicht durch Zuwächse von Arbeit und Kapitalstock erklären lässt, wird als Produktivitätswachstum ausgelegt. Ob dieses Wachstum aber tatsächlich mit höherer Produktivität zu tun hat, ist ungewiss. Daher wird die totale Faktorproduktivität, das ökonomische Maß für Produktivität, auch als ‚Maß unseres Unwissens‘ bezeichnet.
Die geringstmögliche Arbeitslosenquote, bei der keine Inflation entsteht, wird als die sogenannte „Non-Accelerating Wage Rate of Unemployment“ (NAWRU) bezeichnet –die „niedrigstmögliche Arbeitslosenquote, bei der sich der Lohnanstieg nicht beschleunigt“. Bei dieser Arbeitslosenquote gilt das Arbeitspotenzial als erreicht. Die NAWRU ist ein zentraler Faktor für die Schätzung des Produktionspotenzials und damit der Produktionslücke. Wie andere Inputs in die Berechnung der Schuldenbremse, lässt sich auch diese nicht beobachten, sondern wird anhand statistischer Verfahren geschätzt, nach Vorgabe der Europäischen Kommission.
Die neoklassische Theorie sagt, dass es zu Inflation komme, wenn die tatsächliche Arbeitslosigkeit die NAWRU unterschreite. Eine gewisse Arbeitslosigkeit sei also notwendig, um Inflation zu vermeiden. Ob das tatsächlich so ist, ist in der Volkswirtschaftslehre umstritten. Lesen Sie mehr über NAWRU und NAIRU (wie die NAWRU außerhalb der EU bezeichnet wird), damit verbundene Implikationen und Probleme im Interview mit dem Ökonomen Philipp Heimberger.
Um aus den drei Bestandteilen – dem Kapitalstock, dem Arbeitspotenzial und der totalen Faktorproduktivität – das Produktionspotenzial zu berechnen, werden diese drei Zahlen in eine Formel eingesetzt. Diese Formel nennt sich eine Produktionsfunktion.
Konkret wird für die Zwecke der Schuldenbremse eine Cobb-Douglas-Produktionsfunktion verwendet. Sie fußt auf der Annahme konstanter Skalenerträge, also dass zum Beispiel jede Verdopplung der Inputs auch das Potenzial verdoppelt. Ob die Cobb-Douglas-Funktion die Realität korrekt abbildet, ist mindestens zweifelhaft (Gechert et al. 2022).
Um vom Produktionspotenzial zur zulässigen Nettokreditaufnahme zu kommen, sind drei Rechenschritte nötig.
Als erstes berechnet man den Unterschied zwischen BIP und Produktionspotenzial, die sogenannte Produktionslücke. Dafür wird das Produktionspotenzial vom BIP abgezogen. Herrscht Überauslastung, ist das BIP größer als das Produktionspotenzial. Dann ist diese Zahl positiv. Wenn Unterauslastung herrscht, ist das BIP kleiner als das Produktionspotenzial. Dann ist die Zahl negativ.
Im zweiten Schritt wird die Produktionslücke mit der sogenannten Budgetsemielastizität, die heute für den Bund bei 0,2 liegt, multipliziert. Die Bundesregierung darf sich für jeden Euro, den die Wirtschaft unterausgelastet ist, also mit 20 Cent zusätzlich verschulden, beziehungsweise muss für jeden Euro, den die Wirtschaft überausgelastet ist, 20 Cent sparen. Die Produktionslücke multipliziert mit der Budgetsemielastizität entspricht der Konjunkturkomponente.
Im dritten Schritt wird die Konjunkturkomponente zur Strukturkomponente von 0,35 Prozent des BIP addiert.
Sie misst, wie stark der Bundeshaushalt auf Veränderungen des BIP reagiert. Für Deutschland hat die Europäische Kommission ausgerechnet: Fällt das BIP um einen Euro, fehlen im Bundeshaushalt circa 20 Cent. Umgekehrt nimmt der Bund geschätzt etwa 20 Cent mehr ein, wenn das BIP um einen Euro steigt.
Die Budgetsemielastizität fließt in die Konjunkturkomponente ein, damit die Bundesregierung nicht im Abschwung zusätzlich sparen muss und im Aufschwung die Wirtschaft noch zusätzlich befeuert. Konkret darf der Bund jeden verlorenen Euro Wirtschaftsleistung, wenn die Wirtschaft gerade nicht so gut läuft, um circa 20 Cent zusätzliche Verschuldung kompensieren. Die Formel für die Konjunkturkomponente ist also sehr einfach: Man multipliziert die Budgetsemielastizität mit der Produktionslücke.
Die Europäische Kommission überprüft in regelmäßigen Abständen, wie stark Bundeshaushalt und BIP zusammenhängen. Es ist gar nicht so leicht diesen Zusammenhang zu quantifizieren. Die Ergebnisse hängen stark von der genutzten Methode ab, wie Heimberger und Schütz zeigen.
Der berechnete Wert, 20 Cent für den Bundeshaushalt, soll der Größe der automatischen Stabilisatoren entsprechen.
Die Höhe staatlicher Einnahmen und Ausgaben ist abhängig von der wirtschaftlichen Lage. Bei schlechter Konjunktur nimmt der Staat weniger ein, weil weniger Steuern und Abgaben gezahlt werden. Gleichzeitig steigen die staatlichen Ausgaben für Sozialleistungen. In wirtschaftlich guten Zeiten verhält es sich umgekehrt. Weil diese Einnahmen und Ausgaben die Wirtschaft ohne aktives Zutun der Politik stabilisieren, bezeichnet man sie als „automatische Stabilisatoren“.
Die Budgetsemielastizität soll die Größe der automatischen Stabilisatoren abbilden. Die Konjunkturkomponente soll dementsprechend den Betrag abbilden, um den der Bundeshaushalt aufgrund der Konjunktur schwankt.
Was ist eigentlich schlecht daran, wenn das BIP das Produktionspotenzial übersteigt? Laut der Theorie der Neoklassik führt das zu Inflation. Das hat mit dem Arbeitsmarkt zu tun.
Laut neoklassischer Theorie entsteht Inflation, wenn die Arbeitslosigkeit unter dem historischen Durchschnitt liegt. Denn wenn die Arbeitslosigkeit „zu gering“ ist, haben Beschäftigte in Gehaltsverhandlungen zu viel Macht. Da sie wissen, dass es Unternehmen bei geringer Arbeitslosigkeit schwerfallen wird, andere Arbeitskräfte zu finden, könnten sie immer höhere Löhne verlangen. Höhere Löhne treiben die Kosten der Unternehmen nach oben, welche sie über höhere Preise an die Verbraucher:innen weitergeben. So entsteht die so oft beschworene Lohn-Preis-Spirale.
Im Umkehrschluss bedeutet das der neoklassischen Theorie zufolge: Ein gewisses Maß an Arbeitslosigkeit ist nicht nur normal, sondern notwendig – denn sonst käme es zu Inflation.
Das Potenzial und die Vergangenheit
Weil sich das Potenzial der Wirtschaft nicht beobachten lässt, wird es auf Grundlage des Kapitalstocks, des Arbeitspotenzials und der Produktivität geschätzt.
Insbesondere für das Potenzial der Arbeitskräfte stellt sich aber die Frage: Wie wird es definiert? Man könnte beispielsweise davon ausgehen, dass das Potenzial erreicht ist, wenn in Deutschland alle Männer und Frauen gleich viel – in etwa 40 Stunden in der Woche – arbeiten oder in Zeiten des Fachkräftemangels niemand über viele Jahre arbeitslos sein muss.
Doch so wird das Arbeitsmarktpotenzial nicht geschätzt. Stattdessen betrachtet man – etwas vereinfacht – die durchschnittlichen Arbeitszeiten der Vergangenheit und legt es als Potenzial der Zukunft fest. Haben beispielsweise Frauen früher weniger am Arbeitsmarkt teilgenommen, geht man davon aus, dass das künftig nicht anders sein kann. Oder wenn zuvor viele Menschen in Teilzeit gearbeitet haben, wird angenommen, dass sie auch weiterhin nur in Teilzeit zur Verfügung stehen.
Das klingt nicht nur seltsam, es hat auch kontraintuitive Konsequenzen. Würden – etwa aufgrund des Ausbaus von Betreuungsangeboten – mehr Frauen in Zukunft mehr arbeiten als in der Vergangenheit, würde das Arbeitspotenzial als überschritten gelten. Die Wirtschaft wäre „überlastet“ und die Schuldenbremse würde vorgeben, dass gespart werden muss.
Einfach, aber nicht erstrebenswert
In der Logik der Schuldenbremse hat die deutsche Wirtschaft also ihr Potenzial erreicht, wenn sie sich so entwickelt wie in der Vergangenheit. Das ist eine einfache Definition, aber eben auch eine folgenreiche.
Denn wenn man das Arbeitsmarktpotenzial so auslegt, zementiert man damit die Vergangenheit als Richtwert für die Zukunft: „Haben Frauen früher weniger gearbeitet, werden sie das auch in Zukunft tun. War Teilzeit in der Vergangenheit üblich, so gilt das auch für morgen.“
Für die Staatsfinanzen ist das alles andere als nachhaltig. Die größte Herausforderung für den Bundeshaushalt ist die Rente: Je weniger die Menschen im Erwerbsleben verdienen, desto mehr muss der Staat die gesetzliche Rentenversicherung aus dem Haushalt bezuschussen, da die direkten Einnahmen der Rentenversicherung nicht mehr ausreichen. Jede Regierung, der nachhaltige Staatsfinanzen wichtig sind, sollte also ein großes Interesse daran haben, dass alle, die können und wollen, Geld verdienen.
Zudem müssen wir angesichts des Arbeitskräftemangels aus dem verfügbaren Arbeitspotenzial herausholen, was möglich ist. Die Schuldenbremse, so wie sie heute ist, passt also nicht mehr recht in unsere Zeit.
Das Grundgesetz ist keine Hürde
Was könnte man an der Schuldenbremse ändern – und wie?
Manche sagen, das ginge gar nicht, weil die Schuldenbremse im Grundgesetz steht. Und für Grundgesetzänderungen benötigt man in Bundestag und Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit – eine hohe Hürde, die nur schwierig zu nehmen ist.
Tatsächlich aber führt der Weg zu Veränderungen nicht über das Grundgesetz, denn dort wird das fragwürdige Potenzial gar nicht definiert. Einige der oben beschriebenen Details stehen nicht im Gesetz, sondern lediglich in Regierungsdokumenten. Sie können deswegen jederzeit von der Bundesregierung geändert werden.
Man kann die Schuldenbremse also reformieren und ihre problematischen Aspekte verbessern, ohne dafür das Grundgesetz zu ändern. Wie das gelingt, erfahren Sie in Kapitel 3.
Vertiefung im Abschnitt: „Das Grundgesetz ist keine Hürde“
Das Grundgesetz legt die Grundsätze der Schuldenbremse fest. Artikel 109 beschreibt sie im Allgemeinen, Artikel 115 führt aus, wie die Schuldenbremse des Bundes auszusehen hat. Beide Artikel können nur mit Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat geändert werden.
Im Grundgesetz steht allerdings nichts vom Potenzial der Wirtschaft, das die zulässige Neuverschuldung bestimmt. Stattdessen ist von der „Normallage“ der Wirtschaft die Rede. Weicht die Wirtschaft von der Normallage ab, verringert beziehungsweise erhöht sich der zulässige Verschuldungsspielraum.
Der juristische Begriff „Normallage“ wird im Ausführungsgesetz und der dazugehörigen Verordnung mit dem ökonomischen Konzept des Produktionspotenzials gleichgesetzt. Gesetz und Verordnung legen teilweise fest, wie das Produktionspotenzial berechnet werden soll. Einfache Gesetze können mit einer Mehrheit der Stimmen im Bundestag geändert werden. Verordnungen können von der Regierung eigenmächtig, sprich ohne Zustimmung des Bundestages, geändert werden.
Gesetz und Verordnung legen fest, nach welchem Verfahren das Produktionspotenzial berechnet werden soll. Sie legen auch fest, dass das Verfahren mit dem für die europäischen Fiskalregeln genutzten übereinstimmen soll. Sie machen allerdings keine Vorgaben zur Berechnung der Inputs, also der totalen Faktorproduktivität, des Arbeitspotenzials und des Kapitalstocks, die anschließend in die Produktionsfunktion eingefüttert werden. Über diese entscheidet die Bundesregierung – und sie kommt für die Inputs zu anderen Ergebnissen als die Europäische Kommission. Deren Verfahren wird in diesem Working Paper beschrieben.
Ein wichtiges Ziel der gerade laufenden Reform des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts ist das Entfernen des (unbeobachtbaren) Produktionspotenzial als zentraler Baustein der Fiskalregeln. Das Produktionspotenzial ist in der EU mittlerweile sehr umstritten, unter anderem da es für Länder wie Spanien zwischenzeitlich eine Mindestarbeitslosenquote (die NAWRU) von 17 % festlegte. Zusätzlich gab es nie das eine, objektive Verfahren zur Berechnung der Inputs, auf das sich alle einigen konnten.